Ein wichtiger Artikel des Safe Sport Code ist Artikel 4 sowie die damit verbundenen Erläuterungen im Code. Sie bilden die wesentliche Grundlage des gesamten Codes. Daher sind diese Punkte hier nochmals separat aufgeführt (Stand: Januar 2025).
Als Quelle diente das PDF des DOSB.
Als Erstes der Text des Artikel 4 des Codes:
Artikel 4
Im Sinne dieses Codes ist
4.1 Menschenwürde der Eigenwert eines jeden Menschen kraft seines Personenseins,
4.2 Gesundheit der Zustand des körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens,
4.3 sexuelle Selbstbestimmung die Freiheit eines jeden Individuums, seine sexuellen Mög-
lichkeiten auszudrücken und vor allen Formen sexuellen Missbrauchs geschützt zu sein,
4.4 interpersonale Gewalt jeder zwischenmenschliche Missbrauch körperlicher, seelischer
oder sexualisierter Art (körperliche, seelische oder sexualisierte Gewalt) sowie die Ver-
nachlässigung,
4.5 körperliche Gewalt jedes missbräuchliche Verhalten, durch das das körperliche Wohlbe-
finden einer anderen Person beeinträchtigt wird oder werden kann,
4.6 seelische Gewalt jedes missbräuchliche Verhalten, durch das das seelische, mentale oder
soziale Wohlbefinden bzw. die Entwicklung einer anderen Person beeinträchtigt wird
oder werden kann,
4.7 sexualisierte Gewalt jedes missbräuchliche Verhalten mit dem Mittel der Sexualität,
4.8 Vernachlässigung das pflichtwidrige Unterlassen fürsorglichen Verhaltens
Dazu finden sich weiter unten im Dokument wichtige Erklärungen.
Erläuterungen zu Artikel 4
Art. 4 definiert und erläutert Schlüsselbegriffe dieses Codes, damit die Ziele und Aufgaben der Sportorganisation (Art. 2 und 3) sowie das Ver- und Gebot (Art. 5 und 6) verständlich und anwendbar werden. Ihrem Inhalt nach lassen sich die Begriffsbestimmungen des Art. 4 in zwei Kategorien einteilen:
Art. 4.1 bis Art. 4.3 beziehen sich auf die Schutzgüter dieses Codes. Sie bestimmen die Schutzbereiche der Menschenwürde, Gesundheit und sexuellen Selbstbestimmung und werden unter a)weitergehend erläutert.Art. 4.4 bis Art. 4.8 konkretisieren und kategorisieren das verbotene Verhalten der interpersonalen Gewalt, deren einzelne Erscheinungsformen unter b) erläutert werden.
a) Die Definition der Menschenwürde entspricht philosophischen und theologischen Erklärungen, denen auch das Bundesverfassungsgericht gefolgt ist. Das Verständnis von Gesundheitund sexueller Selbstbestimmung orientiert sich an der Verfassung der World Health Organization (WHO) sowie der Erklärung der sexuellen Menschenrechte (Declaration of Sexual Rights)der World Association for Sexual Health (WAS). An deren Definitionen orientieren sich auchnationale Einrichtungen gegen sexuellen Kindesmissbrauch wie die Unabhängige Beauftragtefür Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) in Deutschland und die britische ChildProtection in Sport Unit (CPSU).
Als Menschenwürde wird der Eigenwert eines jeden Menschen verstanden, der jedem Menschen kraft seines Personenseins zukommt und von persönlichen Leistungen, Verdienstenoder Eigenschaften unabhängig ist. Die Menschenwürde etabliert einen umfassenden Achtungsanspruch. Er schützt jeden Menschen vor Behandlungen, die seine Subjektsqualität inFrage stellen. An diese Vorstellungen einer Verobjektivierung knüpfen die verbotenen Erscheinungsformen interpersonaler Gewalt mit dem Begriff des Missbrauchs an.
Der Schutzbereich der Gesundheit erstreckt sich auf das vollständige körperliche, seelischeund soziale Wohlbefinden. Er geht damit weit über das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 des Grundgesetzes) hinaus und bezeichnet einen Zustand, in demes jemanden gut geht bzw. sich diese Person wohlfühlt. Die Weite des Schutzbereichs zieltdarauf, auch niederschwelliges Fehlverhalten unterhalb der strafrechtlichen Schwelle zu erfassen. Ebenso weit ist auch der Schutzbereich der sexuellen Selbstbestimmung nach Art. 4.3,die im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen frei ausgedrückt werden kann. Durch dieWeite des Schutzbereichs kann jeder Missbrauch mit Mitteln der Sexualität einschließlich sexueller Grenzüberschreitungen unterhalb der Schwelle strafbaren Verhaltens erfasst werden.
Alle drei Schutzbereiche der Menschenwürde, Gesundheit und sexuellen Selbstbestimmungweisen erhebliche Schnittmengen auf. Bei vielen Gewalthandlungen sind oft mehrere Schutzbereiche gleichzeitig berührt. Dabei wird es in der Praxis oft schwer fallen zu entscheiden,welcher Schutzbereich im Kern betroffen ist. Dies ist nach diesem Code auch nicht nötig. DasVer- und Gebot gemäß Artikel 5 und 6 verzichtet vielmehr auf das Erfordernis einer Differenzierung zwischen den verschiedenen Erscheinungsformen interpersonaler Gewalt. Dies erleichtert die Handhabung dieses Codes in der Praxis signifikant, entspricht rechtspraktischenBedürfnissen sowie der Lebensrealität, da die Gefährdungen regelmäßig und nahtlos ineinander übergehen.
b) Anknüpfungspunkt des Ver- und Gebots dieses Codes ist der Begriff der interpersonalen Gewalt. Dieser wird in Art. 4.4 bis 4.8. konkretisiert und kategorisiert. Die Begriffsbestimmungenund Erscheinungsformen beruhen hierbei auf internationalen Verständnissen der WHO undWAS sowie nationalen Typisierungen (UBSKM, CPSU, DOSB/dsj, BVDTS), denen deutscheSpitzenverbände im Rahmen von Prävention und Aufarbeitung folgen. Danach ist zwischender Interpersonalität des verbotenen Verhaltens und der Ausübung von Gewalt wie folgt zudifferenzieren:
Dieser Code richtet sich nur gegen interpersonales, also zwischenmenschliches Verhalten. Abzugrenzen davon ist Verhalten gegen Tiere, Sachen oder gegen sich selbst. Ein solches Verhalten wird von diesem Code ebenso wenig erfasst wie strukturelle Gewalt durch juristische Personen (Organisationen, Institutionen). Dies schließt es gleichwohl nicht aus, dass eine von Menschen ausgehende interpersonale Gewalt unter bestimmten Umständen einer dahinterstehenden juristischen Person zugerechnet werden kann. Diese Zurechnungsmöglichkeitergibt sich aus Art. 5.3.
Die Ausübung von Gewalt im Sinne dieses Codes erstreckt sich auf jede Art des (zwischenmenschlichen) Missbrauchs und erfasst damit alle Erscheinungsformen missbräuchlichen Verhaltens. Der maßgebliche Unwertgehalt des Verhaltens kommt in dessen Missbräuchlichkeit zum Ausdruck. Ein solches Verhalten ist dann gegeben, wenn es geltenden, anerkannten bzw. vorherrschenden Regeln, gesellschaftlichen oder rechtlichen Normen widerspricht. Von besonderer Bedeutung bei der Konkretisierung dessen, was unter einem missbräuchlichen Verhalten im Bereich des organisierten Sports zu verstehen ist, sind die Verhaltensregeln zum Safe Sport Code, die sich im Anhang zu diesem Code finden. Diese Regelnkodifizieren grundlegende Vorstellungen insbesondere im Verhältnis zwischen Trainer*innen/Betreuer*innen und Sportler*innen und füllen damit den Begriff des missbräuchlichen Verhaltens im Sinne dieses Codes aus. Darüber hinaus kann letztlich auch auf solche moralische sowie ethische Übereinkünfte zurückgegriffen werden, die im Lebensbereich Sport allgemein anerkannt sind. Entscheidend bei alledem ist weniger die individuelle Perspektivebzw. das subjektive Empfinden der betroffenen Person. Die Missbräuchlichkeit setzt vielmehr voraus, dass die Regel objektiv anerkannt ist, indem sie von einer Mehrheit getragen wird.
Ausgehend von diesem Missbrauchsverständnis kann ein bestimmtes Verhalten im freizeitmäßigen Kindersport anders zu beurteilen sein als dasselbe Verhalten im leistungsorientierten Erwachsenenbereich. Schließlich divergieren auch die objektiven Maßstäbe in den verschiedenen Bereichen des Sports. Darüber hinaus ist von besonderer Bedeutung, wenn die betroffene Person mit dem Verhalten freiverantwortlich einverstanden war. Dies trifft beispielsweise auf eine volljährige Person zu, die mit einem Training einverstanden ist, das sie an die Grenze der körperlichen und/oder seelischen Leistungsfähigkeit führt. Schließlich ist leistungssportliches Training per se auf das Streben nach einer peak performance gerichtet. Entscheidend dabei ist, ob sich das Training oder die einzelne Maßnahme noch im Rahmengeltender Richtlinien bewegt und mit Blick auf die freiverantwortlich handelnde Person(noch) vertretbar erscheint („Wohlsein im Unwohlsein“). Die Überschreitung von geltenden Richtlinien entfaltet dabei zwar ein gewisses Indiz für die Annahme von interpersonaler Gewalt. Dieses kann aber durch ein freies Einverständnis widerlegt werden. Schließlich ist auch die umgekehrte Situation denkbar, in der sich ein Verhalten zwar im Rahmen geltender Richtlinien bewegt, aber unter besonderen Umständen dennoch als Gewalt einzustufen ist. Dies ist dann der Fall, wenn das Verhalten darauf zielt, die Menschenwürde, Gesundheit oder sexuelle Selbstbestimmung einer anderen Person zu gefährden bzw. zu beeinträchtigen und dieser Wille durch richtliniengetreues Verhalten getarnt wird. Maßgeblich in diesen Konstellationenist stets eine Gesamtbewertung aller Faktoren. Dabei kommt den Beweismaßstäben entscheidende Bedeutung zu. Diese werden in Art. 7 geregelt und eingehend erläutert.
Sodann unterscheidet Art. 4.4 zwischen den vier Kategorien der körperlichen, seelischen undsexualisierten Gewalt sowie Vernachlässigung. Der Unwertgehalt sämtlicher Formen interpersonaler Gewalt liegt dabei stets in einem missbräuchlichen Verhalten, wie die Definitionen nach Art. 4.5 bis 4.8 deutlich machen. Ein solches Verhalten verlangt nicht den Eintritt eines bestimmten Erfolges. Interpersonale Gewalt liegt vielmehr bereits dann vor, wenn die betroffenen Schutzgüter gefährdet sind. Sämtliche Erscheinungsformen der interpersonalen Gewalt sind nach diesem Code daher als gemischte Verletzungs- und Gefährdungsdelikte konzipiert. Danach werden sowohl Verletzungen der Schutzgüter, als auch bloße Gefährdungen tatbestandlich erfasst. Dies entspricht dem allgemeinen Verständnis von Gewalt, das auf denNachweis eines bestimmten Erfolges verzichtet. Damit verbunden sind signifikante Nachweiserleichterungen bei der Annahme von Verstößen gegen diesen Code. So ist der Kausalitätsnachweis, ob und inwieweit ein bestimmtes Verhalten zu einem Schaden geführt hat odernicht, in der Praxis mitunter kaum zu erbringen. Deshalb erstreckt sich das Verbot von interpersonaler Gewalt auf die Herbeiführung einer Gefährdung für die Schutzgüter.
aa) Für das Vorliegen körperlicher Gewalt nach Art. 4.5 bedarf es der negativen erfolgten oder möglichen Einwirkung auf das körperliche Wohlbefinden. Ob die Einwirkung selbst in körperlicher, seelischer oder sonstiger Form geschieht, ist dabei irrelevant. Demnach können sowohl körperliche Handlungen (wie etwa Schlagen, Treten, Beißen, Schubsen oder Schütteln) körperliche Gewalt darstellen, als auch nichtkörperliches Verhalten wie die Anordnung von Trainingsmaßnahmen einschließlich Übungsstunden oder Wettkampfteilnahmen die ihrerseits missbräuchlich sind und zu körperlichen Einbußen führen oder führen können. Letzteres ist etwa dann der Fall, wenn ein Kind in ein Training oder einen Wettkampf gezwungen wird und dies zu einer physischen Überforderung des Kindes führt oder führen kann, das Kind mittels Drogen zuhöherer Leistungsfähigkeit gebracht werden soll oder eine Wettkampfteilnahme imverletzten Zustand des Kindes angeordnet wird. In sämtlichen Konstellationen wäreeine etwaige Einwilligung des Kindes unwirksam.
bb) Als seelische Gewalt im Sinne von Art. 4.6 gilt ferner jedes missbräuchliche Verhalten, durch das das seelische, mentale oder soziale Wohlbefinden bzw. die Entwicklung einer anderen Person beeinträchtigt wird oder werden kann. Eine solche Beeinträchtigung – beispielsweise in Form von Scham oder Angst – kann wiederum durch körperliches Verhalten (wie z.B. Berührungen) aber auch durch nichtkörperliches Verhalten (wie z.B. durch Herabwürdigung, Verspottung, Verunglimpfung oder Bedrohung) herbeigeführt werden. Auch diskriminierende Äußerungen und Handlung in Bezug aufbestimmte Merkmale (z.B. Herkunft, Hautfarbe, Behinderung, Religion, Sprache oder geschlechtliche sowie sexuelle Identität) sowie das „Unter-Druck-setzen“ von Sport-ler*innen bzw. Abverlangen unrealistischer Leistungen gehören hierher. Da seelische Beeinträchtigungen häufig zu körperlichen Folgen führen, sind die Grenzen zwischenseelischer und körperlicher Gewalt oft fließend. Dementsprechend verzichtet das Verbot des Art. 5 auf eine praktisch schwierige und bisweilen kaum machbare Festlegung.
cc) Unter sexualisierter Gewalt gemäß Art. 4.7 ist jeder Missbrauch mit dem Mittel derSexualität zu verstehen. Im Mittelpunkt des sexualisierten Missbrauchs steht regelmäßig die Machtausübung. Diese ist bei sexualisierter Gewalt in besonderer Weise davongeprägt, bei den Betroffenen Gefühle von Ohnmacht und Scham hervorzurufen. DieBandbreite an Handlungen reicht von sexuellen Übergriffen mit Körperkontakt (sog.„hands-on“-Handlungen) über sexuelle Handlungen ohne Körperkontakt (sog. „hands-off“-Handlungen) bis hin zu sexuellen Grenzverletzungen. Zu den sexuellen Übergriffen mit direktem Körperkontakt gehören beispielsweise die Vergewaltigung, Penetration sowie sexuelle Berührungen etwa in der Leistengegend oder an den Genitalien.Sexualisierte Gewaltausübungen sowie Belästigungen ohne direkten Körperkontaktsind demgegenüber verbale und gestische sexuelle Belästigungen, das Versenden von Text-, Sprach- oder Bildnachrichten mit sexuellem Inhalt an Minderjährige, wie auchdas Zeigen von sexuellen Aktivitäten in Form von Pornografie, Exhibitionismus, oder Film-/Fotoaufnahmen, die betroffene Personen auf eine sexualisierte Art darstellen.Als sexuelle Grenzverletzungen gelten schließlich Konstellationen, in denen bei Hilfestellungen oder Massagen der Intimbereich berührt wird, wenn Umarmungen oderBegrüßungsküsse ausgetauscht werden oder bei der Sportausübung nahe Körperberührungen stattfinden.
dd) Unter einer Vernachlässigung im Sinne von Art. 4.8 ist schließlich das pflichtwidrige Unterlassen eines fürsorglichen Verhaltens zu verstehen. In der Regel handelt es sichbei den vernachlässigten Personen um Kinder und Jugendliche, deren grundlegendephysische oder psychische Bedürfnisse nicht (hinreichend) er füllt werden. Da Kinderbesondere Bedürfnisse nach Zuwendung, Versorgung und Sicherheit haben, könnenVerhaltensweisen, die diese Bedürfnisse vernachlässigen, langanhaltende Auswirkungen auf ihre Gesundheit oder Entwicklung haben und deshalb wiederum zu Verletzungen der körperlichen und/oder seelischen Gesundheit führen. Eine Vernachlässigungliegt beispielsweise dann vor, wenn ein*e Trainer*in nicht angemessen dafür sorgt,dass Schutzbefohlene bei der Ausübung des Sports sicher sind, etwa unsicheren Rahmenbedingungen, extremen Witterungsbedingungen oder einem unnötigen Verletzungsrisiko oder einer Mangelversorgung bei der Ernährung (Essen, Flüssigkeitszufuhr), Körperhygiene, gesundheitlichen Versorgung, Beaufsichtigung und Betreuung,emotionalen (liebevollen) Zuwendung und intellektuellen und psychosozialen Förderung ausgesetzt werden. Entscheidend in diesen Fällen interpersonaler Gewalt ist diePflichtwidrigkeit eines Unterlassens, die auf einer Garantenstellung der gewaltausübenden Person beruht.
Schließlich kann jedes missbräuchliche Verhalten in einem positiven Tun oder (pflichtwidrigen) Unterlassen geschehen. Letzteres ist der Vernachlässigung wesenstypisch. Unter welchen Voraussetzungen ein Unterlassen pflichtwidrig ist, bestimmt sich nach allgemeinenGrundsätzen staatlichen (Straf-)Rechts über die Begründung von Einstandspflichten bei Unterlassungsdelikten. Der Begriff der interpersonalen Gewalt fungiert bei alledem als Oberbegriff und Anknüpfungspunkt für die Verbot nach Art. 5 und das Gebot nach Art. 6
Die Einführung und Umsetzung des Safe Sport Codes sollte auch in Kampfsportvereinen im Saarland erfolgen. Auch im Kampfsportverein kann es zu Gewalt kommen, die gegen die in Artikel 4 genannten Punkte verstößt. Daher ist es wichtig, dass sich die Verantwortlichen und Trainer mit der Problematik auseinandersetzen und den Vorgaben des Codes folgen. Viele Schulen und Vereine in der Landeshauptstadt Saarbrücken und im ganzen Saarland haben sich des Themas bereits angenommen und mit der Umsetzung des Safe Sport begonnen.