Für eine grundlegende Bewegungsdefinition werden die Basistechniken des Wing Chun im traditionellen Training in festen Bewegungsabläufen festgehalten, die als Formen (Siehe auch hier) bezeichnet werden.

Yip Man Form 1 Wing Chun Siu Lim SaoVergleichbar mit einem Schüler, der in der Schule zuerst das Schreiben von einzelnen Buchstaben lernen soll, erarbeitet sich ein Wing Chun Schüler beim traditionellen Training die grundlegenden Bewegungen des Wing Chun in drei Basisformen Siu Lim Tao (die Kleine Idee) einige schreiben auch Siu Nim Tao, Chum Kiu (sinkende Brücke) und Biu Jee (stechende Finger).

Genauso aber wie der Schüler mit dem Schreiben einzelner Buchstaben noch keine Wörter oder Sätze, geschweige denn ganze Texte schreiben kann, muss ein Wing Chun Schüler in die Lage versetzt werden, das Wing Chun praktisch umzusetzen und methodisch / didaktische Zusammenhänge in dieser Kampfkunst zu erkennen.

Um zu verstehen, wie die Formen in die Praxis der realen Selbstverteidigungssituation übertragen werden können (also das Schreiben von ganzen Texten), wie sie sowohl den Körper als auch den Geist zu schulen vermögen und wie man sie letztendlich auch als Lehrer einem Schüler weitergeben kann, braucht es neben einem breitangelegten Potential an Verwendungsmöglichkeiten in verschiedenen und häufig wechselnden Trainingsbereichen vor allem die Unterstützung eines kompetenten Lehrers.

Wer sich unter Formen immer noch nichts vorstellen kann, braucht nur an die Bewegungen verschiedenster Taijmeister zu denken, oder an die Ausführungen im Qigong. In China wird man es öfter sehen, dass sich ganze Menschenmassen zum frühmorgendlichen gemeinsamen Qigong-Training treffen. Die Bewegungen sehen zwar anders aus als im Wing Chun, aber es handelt sich auch hier um Formen.

Siu Nim Tao  [小念头]

Wing Chun Formen TrainingDie erste Form Siu Nim Tao (kleine Idee) ist die Grundlage, von der aus das ganze System erwächst.  念 ist das Zeichen für Idee. Andere nennen diese Form auch Siu Lin Tao (小練头). 練 (Lin) ist das Zeichen für Üben. Wie bei einer Pyramide und ihrem breiten Fundament, sind in dieser ersten Form alle fundamentalen Prinzipien und Bewegungen dieser Kampfkunst angelegt. Die erste Form enthält insgesamt acht Sätze und ist aufgeteilt in drei Sektionen mit jeweils verschiedenen Schwerpunkten. Der erste Abschnitt trainiert den korrekten Stand  ( "Yee Jee Kim Yeung Ma" gesprochen ca "Ji Tshi (nicht "sch") Kim Jööng Ma"  ) und die Grundspannung im Körper. Der zweite Abschnitt trainiert die Konzentration und die Achtsamkeit. Gerade die Ausführung der Saam Pai Fut (Dreimalige Verehrung Buddhas) bedarf der Gedult und Ruhe. Der dritte Abschnitt schult den gezielten Einsatz der Energie in verschiedenen Grundtechniken wie Tansau, Foksau, Bongsau usw. Die Form vermittelt ein Grundverständnis über die Bewegungsmöglichkeiten des Körpers und trainiert die "Grundfähigkeiten der Motorik". Manche mehr, manche weniger.  Weiterhin werden Muskeln und Sehnen gedehnt (nicht verlängert!!!) . Die erste Form ist ähnlich einem Buch, in dem man nachschlagen würde, wenn man sich über die Ausführung einer Bewegung im Unklaren ist. So lernt man einzelne Bewegungen auswendig und kann sie immer wieder abrufen.

Chum Kiu

Die zweite Form Chum Kiu [tsham (nicht "sch") kiu] (suchende Brücke) lehrt den Schüler seine Techniken in Verbindung mit geeigneten Schritttechniken im Raum einzusetzen. Er lernt die Balance und Stabilität in der Bewegung zu halten. Die Fertigkeit, eine Distanz zu einem Gegner geschützt zu überbrücken und ihm dabei gleichzeitig dynamisch auszuweichen, wird systematisch entwickelt und vertieft. Gleichzeitig lernt ein Schüler, seine Beine in verschiedenen Schritttechniken effizient einzusetzen und die Beinmuskulatur und seine Sehnen zu dehnen. Er lernt verschiedene Armtechniken mit dem entsprechenden Energieeinsatz und der Schritttechnik. Als Ellenbogentechnik lernt er den Pai Zaang - den vertikalen Ellenbogen kenne. Er bewegt sich waagerecht von hinten nach vorne - in der Form mit Wendung.

Biu Jee

Die dritte Form Biu Jee [Biu Tshii (nicht "schi")] oder Biu Tze (stechende Finger) ist die 3te Waffenlose Form des Wing Chun. Das Mysterium um diese Form rührt angeblich von der Tradition her, dass diese Form vom Meister jeweils nur an die loyalsten und besten Schülern weitergegeben wurde. Böse Zungen behaupten zuweilen, dass diese Form von den Meistern nur dazu entwickelt wurde, Fehler während der Ausführung der Techniken im Freikampf gegen Schüler zu korrigieren und sie sich damit eine Zeit lang wirkungsvoll vom Leibe zu halten. Die Gefährlichkeit der Form liegt in ihrer Kompromisslosigkeit und ihrer Gradlinigkeit. Der Gegner wird in keiner Weise umgangen, sondern im Moment seines Angriffs mit entsprechendem Konterangriff kampfunfähig gemacht. Dabei werden vor allem Ellenbogen und Fingertechniken im koordinierten Zusammenwirken gegen besonders empfindliche Punkte des gegnerischen Körpers zum Einsatz gebracht. Im Rahmen der Biu Jee lernen wir die Ideen des Kap Zaang (vielleicht auch Jaang geschrieben) – vertikaler Ellenbogen (er kommt von oben nach unten) und  Kwai (Gwei)  Zaang – diagonaler (eigenlich "knieend") Ellenbogen (blockiert eher) kennen. Ein weiterer Schwerpunkt ist das Aufnehmen und Weiterleiten von Kraft in den Boden durch leichtes Nachgeben in den Beinen und das wieder Abgeben von Kraft durch leichtes Mitgehen in den Beinen. Also ein Konzept, dass viele vom Boxen vielleicht schon kennen.

Mok Jan Chong (Holzpuppe, Wing Chun Dummy)

Yip Man und Holzpuppe , die 4. Form im Wing ChunDie Holzpuppe (Mok Jan Chong [ mok jan tshon (nicht "sch")]- ein Trainingsgerät in Form eines simplen Holzstammes mit drei Armen und einem Bein - dient der Perfektionierung der Techniken aus den Basisformen in einer genau festgelegten Abfolge einerseits. Als Nebeneffekt werden die Beine und Arme des Wing Chun Kämpfers Abgehärtet. Das Training an der Holzpuppe ist somit keine Form im eigentlichen Sinne, sondern eine Anwendung an einem äußerst widerstandsfähigen und geduldigen Partner. Die Geometrie des Kampfes, also das Einhalten bestimmter Winkel vom Körper des Trainierenden zur Holzpuppe, Distanzgefühl, sowie die geschützte Positionsveränderung im Raum, wird in dieser Form zur Perfektion gebracht.

Woher die Holzpuppe als Trainingsgerät ursprünglich kommt, kann man leider nicht mehr nachweisen. Angeblich gab es in Shaolin eine Wooden Dummy Alley in der der Schüler sein Können prüfen konnte. Es waren angeblich auch genau 108 Wooden Dummys, warum die Holzpuppenform in vielen Wing Chun Stilen genau 108 Bewegungen kennt. 

Lok Dim Bun Guan (Langstockform)

Langstock im Wing Chun, die 5. FormDer Langstock (Lok Dim Bun Guan), eine Waffe aus massivem Holz von ca. 2,5 m Länge, wird in einer Form mit 6 ½ Grundbewegungen und deren Variationen im Zusammenspiel mit einer speziellen Schritttechnik zur Anwendung gebracht. Der Körper des Trainierenden wird hier bis an die Grenzen des Erträglichen belastet. Tiefe Stände und immer anspruchsvoller werdende Übungen lehren einen die Sinne zu schärfen, den Hochmut zu zügeln sowie das Erlernte weiter zu vertiefen, um den Weg gestärkt fortzusetzen. Die Taktischen Überlegungen aus der Holzpuppenform werden hier zudem auf einen größeren Raum ausgedehnt und vertieft. Sehr anstrengend sind die sogenannten "Battle Punch" (Jin Choi) auch Bogen und Pfeil-Schlag genannt, ist eine Übung in tiefem Mabo. Dabei werden Seitschritte gemacht kombiniert mit Fauststößen.  Siehe hieroder hier.

Bart Cham Dao (Kurzschwertform oder Doppelmesser. )

(Andere gelesene Schreibweisen: Baat Chum Dao, Pa Chum Dao ) Bart bedeutet acht, Cham soviel wie schneiden, spalten und Dao ist das Schwert.

Doppelmesser Schmetterlingsmesser Wing ChunDie Kurzschwerter [baat tsham do (nicht "sch")], oft Doppelmessser genannt, sind der krönende Abschluss des Wing Chun. Sie sind Abschluss und Neuanfang zugleich. Alles Erlernte wird vertieft und unter ernüchternden Umständen kritisch betrachtet, ist doch bei der Schwertkunst die Verletzungsgefahr bei Unachtsamkeit, Starrheit und Hochmut allgegenwärtig. Leben und Tod erscheinen in den Bewegungen und Übungen mit den Doppelmessern so nahe wie noch nie. Ein neues Verständnis ist gefordert, die Bereitschaft, sich selber besser kennenzulernen und das eigene Ich etwas kleiner werden zu lassen. Der Kampf richtet sich von aussen nach innen und man erkennt, dass man sich selbst der stärkste Gegner ist.

Der zeitliche Aufwand, das komplette Wing Chun System zu erlernen, ist enorm und bei traditionellem Trainingsansatz muss man sich gerade die Formen ab der Holzpuppenform schwer verdienen. Erst, wer die ersten drei waffenlosen Formen des Wing Chun sehr gut beherrscht und gemeistert hat, kann mit der Holzpuppenform anfangen. Nicht, dass ein Schüler nicht auch einmal Begegnungen an der Holzpuppe üben könnte, dass er nicht einmal einige Bewegungen mit dem Langstock ausführen kann, auch z.B. um etwas Gung (Power) in den Körper zu bekommen, aber die offiziellen Formen werden nicht verschenkt. Nachdem ich 1996 mit traditionellem Wing Chun nach Meister Lok Yiu anfangen konnte und sicher deutlich mehr als 6 Stunden in der Woche trainiere, durfte ich erst bei einem Seminar meines Sifu die Zwei-Mann-Holzpuppenform und wenige Bewegungen an der Holzpuppe lernen. Wie man also sieht, ist gutes Wing Chun ein langer Weg und der Einstieg in die Holzpuppenform oder gar in darüber liegende Formen wie Langstock und Doppelmesser sind etwas Besonderes. Manche Wing Chun Schüler meistern diese Inhalte, je nach Einstellung und Einsatz, erst im Alter.

 

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