Was sind Balance und Gleichgewicht?
Das Wort Balance wurde im 17. Jahrhundert vom französischen "balance" entlehnt und geht auf das lateinisch "bi" (zwei) und "lanx" (Teller, Platte, Waagschale) zurück.
Es bedeutet wörtlich also zwei Waagschalen und meint Gleichgewicht und innere Ruhe. Im folgenden wird aber nicht auf das Thema innere Ruhe eingegangen. Ein Mensch mag körperlich im Gleichgewicht sein, aber innerlich total unruhig. Dieser Aspekt wird nicht betrachtet.
Ein Körper im Gleichgewicht
Wann ist nun mein Körper im Gleichgewicht bzw in Balance? Einfach gesprochen dann, wenn du ruhig stehen kannst ohne umzufallen. Eine Balkenwaage ist dann im Gleichgewicht, wenn auf beiden Waagschalen dasselbe Gewicht liegt. Wenn man breitbeinig steht, ist es meist kein Problem das Gleichgewicht zu halten. Stellt man sich dagegen nur auf ein Bein wird man merken, dass man anfängt instabil zu werden und vielleicht kommt man aus dem Gleichgewicht und würde auf den Boden fallen, wenn man sich nicht schnell abstützt. Auch schwierig, aber gefährlicher ist ein Drahtseilakt. Es ist die Situation eines Seiltänzers, der auf einem Drahtseil balanciert und Gefahr läuft, nach unten abzustürzen. Er wird versuchen seinen Körper im Gleichgewicht zu halten.
Was ist Gleichgewicht in der Kampfkunst?
Es ist schon eine gute Sache, wenn man ohne Einfluss von außen stehen und gehen kann. Das Gehen ganz ohne Hilfe erleben viele Babys rund um den 13. Lebensmonat. Noch schwieriger ist das Treppensteigen oder komplexere Bewegungen. Schritte im Wing Chun sind relativ einfach zu lernen und mit etwas Übung wird niemand hinfallen oder größere Gleichgewichtsprobleme damit haben. Schwieriger wird es allerdings, wenn das Stehen oder Gehen von außen gestört wird. Ist ein Trainingspartner kontraproduktiv, kann er meine Balance stören und mich aus dem Gleichgewicht bringen. Ein geschickter Gegner, wird im Kampf ebenfalls versuchen mein Gleichgewicht zu stören. Gleichgewicht in der Kampfkunst bedeutet also, dass ich ohne Einfluss und mit Einfluss von außen stabil stehen und gehen kann. Oder noch allgemeiner, dass ich mich bewegen kann ohne ständig gegensteuern zu müssen.
Warum ist Gleichgewicht in der Kampfkunst wichtig?
Um Verteidigung und Angriff gut umsetzen zu können, sollten diese ungestört ausgeführt werden. Dies gelingt umso besser, je mehr Dein Körper im Gleichgewicht ist. Je mehr dich dein Gegner aus dem Gleichgewicht bringt und dich stört, um so höher ist die Chance, dass du fällst, dein Block ins Leere geht, dein Fauststoß nicht trifft usw. Gleichgewicht in Stand und Bewegung sind daher wesentlicher Bestandteil eines guten Kung Fu und Kampfsport-Trainings. Das gilt für Wing Chun, aber ebenso für Krav Maga, Karate, Ju Jutzu und andere Stile.
Wie trainiert man das Gleichgewicht allgemein?
Bei Kindern (aber auch Erwachsenen) kann man das Balancieren in Spaziergänge einbauen. Dafür braucht man keine speziellen Geräte. Im nächsten Park oder Wald kann man über Mauern gehen oder über einen gefällten Baum balancieren. Vielleicht sind am Weg Randsteine über die man balancieren kann. In einer Sporthalle ist es die Holzbank oder ein ganzer Parkour.
Auf einem Bein stehen bei geöffneten und verschlossenen Augen. Erweiterbar: Das zweite Bein wird dabei bewegt.
Auf einem Bein stehe, den Kopf in den Nacken legen und an die Decke schauen. Schritt 2: Augen schließen.
Die Standwaage ist eine Turnübung. Man steht auf einem Bein, während das andere gestreckt im 90°-Winkel oder höher nach hinten zeigt. Die Arme werden nach links und rechts ausgestreckt.
Linienstand und Gang. Ein Fuss folgt direkt auf den anderer in einer Linie wie beim Kinderspiel Tip-Top (Seitenwahl beim Fussballspiel).
Lunges (Ausfallschritte) erweiterbar mit nach links und rechts ausgestreckten Armen.
Man legt z.B. 5 Tennisbälle vor sich im Halbkreis auf den Boden. Abstände kann man variieren. Nun auf einem Bein stehen und die Tennisbälle mit dem anderen Fuß berühren. Schwieriger wird es, wenn man einen Tennisball mit der Hand berühren will. Dabei muss man tief runter ohne umzufallen.
Zwei Partner, jeder steht auf einem Bein und sie werfen sich einen Ball zu.
Zwei Partner stehen sich gegenüber und halten sich an den Händen/Handgelenken wobei sie in die Kniebeuge gehen. Sie müssen sich gegenseitig halten, sonst fallen beide nach Hinten. Man könnte nun versuchen die Hände diagonal zu tauschen ohne dabei umzufallen.
Viele interessante Ansätze findest du dazu auch unter dem Stichwort Life Kinetik im Netz.
Wie trainiert man das Gleichgewicht im Kung Fu?
Im Wing Chun und vielen anderen Stilen sind Formen der erste Schritt, Balance zu üben. In der ersten Form im Wing Chun macht man keine Schritte. In der zweiten und dritten Form wird es schwieriger, denn die Beine bewegen sich recht komplex. Noch schwieriger ist die 180° Wendung am Anfang der Chum Kiu. Es ist eine sehr gute Gleichgewichtsübung.
Im Einzeltraining kombiniere ich die Bewegungen der Formen mit und ohne Schritte. Hier gibt es keinen Einfluss von außen. So zb. bei der Übung Sat San Choi / Choy (seitlicher Fauststoß). Man übt die Wendung (ca 90°) + Fauststoß. Durch die Kombination ist es nicht einfach das Gleichgewicht zu halten. Das Sat San Choi / Choy ist eine sehr wichtige Übung für das Gleichgewicht (nicht nur dafür).
In den Partnerübungen Chi Dan Sao, Lap Sao und Chi Sao gibt es einen festen Bewegungsablauf. Diese Übungen kann man im Stand oder mit Schritten üben. Im letzten Fall ist es schwieriger, die Balance zu halten.
Im freien Chi Sao oder Go Sao werden Techniken des Wing Chun frei kombiniert.
Freies einarmiges Chisao aber auf einem Bein. Armvariationen Rechter Arm zum Linken oder diagonal rechter Arm zum Rechten / visaversa.
Wing Chun hat also ein ausgeklügeltes Konzept, die Balance ohne und mit Beinbewegung, ohne und mit Partner zu trainieren. Andere Kampfkunst- und Kampfsportarten haben ähnliche Ideen. Zumindest gibt es sicher keinen Stil, der das Thema Gleichgewicht nicht beachtet oder links liegen lässt.
Auch ist in anderen Kung Fu Stilen die Reihenfolge und die zunehmende Schwierigkeit in den Übungen, das Gleichgewicht zu halten, ähnlich. Wer also mit einem Trainingspartner, der sich kontraproduktiv verhält, frei Angriffs- und Verteidigungstechniken seiner Kampfkunst trainieren kann, ohne dabei das Gleichgewicht zu verlieren, hat in einer Notwehrsituation sicher gute Chancen, sich selbst verteidigen zu können.